Wochenandacht

für die Woche vom 12. bis zum 18. Oktober


Predigt am Sonntag, 12. Oktober, über Josua 2, 1-21,
von Vikar Ferdinand Billharz

Liebe Gemeinde,

der Philosoph Immanuel Kant hat mal folgendes Gedankenexperiment aufgestellt:

Ein Mensch flieht vor seinem Mörder und findet in einem fremden Haus Zuflucht. Kurz darauf klopft der Verfolger an und fragt den Hausbesitzer:
„Ist der Flüchtende bei Ihnen?“

Nun steht der Hausbesitzer vor einer Entscheidung:
Soll er die Wahrheit sagen – und damit das Leben des Flüchtenden gefährden?
Oder soll er lügen, um ihn zu schützen?


Kant sagt: Nein, du darfst nicht lügen – auch nicht aus guten Gründen. Denn das würde das Vertrauen zerstören, auf dem unser Miteinander beruht.
Die Wahrheit ist für ihn Pflicht – immer und überall.

Wie geht es Ihnen mit der Antwort?

Mich lässt sie unruhig zurück. Was, wenn Wahrheit tötet und Lüge Leben rettet?

Und genau an dieser Stelle, liebe Gemeinde, erinnert Kants Gedankenexperiment an eine uralte Geschichte aus der Bibel.
Auch dort steht ein Mensch in einem Dilemma, das sich nicht eindeutig lösen lässt.

1Josua aber, der Sohn Nuns, sandte von Schittim zwei Männer heimlich als Kundschafter aus und sagte ihnen: Geht hin, seht das Land an, auch Jericho. Die gingen hin und kamen in das Haus einer Hure, die hieß Rahab, und kehrten dort ein. 2Da wurde dem König von Jericho angesagt: Siehe, es sind in dieser Nacht Männer von den Israeliten hereingekommen, um das Land zu erkunden. 3Da sandte der König von Jericho zu Rahab und ließ ihr sagen: Gib die Männer heraus, die zu dir in dein Haus gekommen sind; denn sie sind gekommen, um das ganze Land zu erkunden. 4Aber die Frau nahm die beiden Männer und verbarg sie. Und sie sprach: Ja, es sind Männer zu mir hereingekommen, aber ich wusste nicht, woher sie waren.

5Und als man das Stadttor schließen wollte, da es finster wurde, gingen die Männer hinaus, und ich weiß nicht, wo sie hingegangen sind. Jagt ihnen eilends nach, dann werdet ihr sie ergreifen. 6Sie aber hatte sie auf das Dach steigen lassen und unter den Flachsstängeln versteckt, die sie auf dem Dach ausgebreitet hatte. 7Die Verfolger aber jagten ihnen nach auf dem Wege zum Jordan bis an die Furten, und man schloss das Tor zu, als sie draußen waren.

8Und ehe die Männer sich schlafen legten, stieg Rahab zu ihnen hinauf auf das Dach 9und sprach zu ihnen: Ich weiß, dass der Herr euch das Land gegeben hat; denn

ein Schrecken vor euch ist über uns gefallen, und alle Bewohner des Landes sind vor euch feige geworden. 10Denn wir haben gehört, wie der Herr das Wasser im Schilfmeer ausgetrocknet hat vor euch her, als ihr aus Ägypten zogt, und was ihr den beiden Königen der Amoriter, Sihon und Og, jenseits des Jordans getan habt, wie ihr an ihnen den Bann vollstreckt habt. 11Und seitdem wir das gehört haben, ist unser Herz verzagt und es wagt keiner mehr, vor euch zu atmen; denn der Herr, euer Gott, ist Gott oben im Himmel und unten auf Erden. 12So schwört mir nun bei dem Herrn, weil ich an euch Barmherzigkeit getan habe, dass auch ihr an meines Vaters Hause Barmherzigkeit tut, und gebt mir ein sicheres Zeichen, 13dass ihr leben lasst meinen Vater, meine Mutter, meine Brüder und meine Schwestern und alles, was sie haben, und uns vom Tode errettet. 14Die Männer sprachen zu ihr: Tun wir nicht Barmherzigkeit und Treue an dir, wenn uns der Herr das Land gibt, so wollen wir selbst des Todes sein, sofern du unsere Sache nicht verrätst.

15Da ließ Rahab sie an einem Seil durchs Fenster hinab; denn ihr Haus war an der Stadtmauer, und sie wohnte an der Mauer. 16Und sie sprach zu ihnen: Geht auf das Gebirge, dass eure Verfolger euch nicht begegnen, und verbergt euch dort drei Tage, bis zurückkommen, die euch nachjagen; danach geht eures Weges. 17Die Männer aber sprachen zu ihr: So wollen wir den Eid einlösen, den du uns hast schwören lassen: 18Wenn wir ins Land kommen, so sollst du dies rote Seil in das Fenster knüpfen, durch das du uns herabgelassen hast, und zu dir ins Haus versammeln deinen Vater, deine Mutter, deine Brüder und deines Vaters ganzes Haus. 19So soll es sein: Wer zur Tür deines Hauses herausgeht, dessen Blut komme über sein Haupt, aber wir seien unschuldig; doch das Blut aller, die in deinem Hause bleiben, soll über unser Haupt kommen, wenn Hand an sie gelegt wird. 20Und wenn du etwas von dieser unserer Sache verrätst, so sind wir frei von dem Eid, den du uns hast schwören lassen. 21Sie sprach: Es sei, wie ihr sagt!, und ließ sie gehen. Und sie gingen weg. Und sie knüpfte das rote Seil ins Fenster.

 

Zwei Männer betreten das Haus Rahabs. Als den beiden Gefahr von Verfolgern droht, verbirgt sie die Fremden. Die Verfolger lenkt sie auf eine falsche Fährte. Sie rettet ihnen das Leben. Doch nicht nur den Verfolgten: auch sich selbst rettet sie durch ihr Handeln vor dem Tod, und ebenso alle Mitglieder ihrer Familie. Eine mutige Frau, die Leben rettet und dadurch ihr Leben geschenkt bekommt. Eine mutige Frau, die sich durch ihr beherztes Handeln einen Platz im Volk Gottes erwirbt. So liest sich die Geschichte Rahabs – aus dem Blickwinkel der Sieger.

Doch Sie ahnen es: Es gibt noch andere Blickwinkel.

Da ist die Sicht der Bewohner Jerichos. Es nähert sich ein fremdes, kriegerisches Volk der Stadt. Als der König hört, dass Kundschafter unterwegs sind, sendet er Soldaten aus um sein Volk zu schützen. Diese können die Kundschafter aber nicht finden, weil Rahab sie versteckt. Sie verrät damit ihre Nachbarn, ihre ganze Stadt. Aus Mitleid gegenüber den beiden Männern? Vielleicht. Sicher ist aber, dass sie damit sich selbst und ihre Familie vom Schicksal der Stadt freikauft. Sie handelt mit den feindlichen Agenten aus verschont zu werden, als Gegenleistung für ihren Verrat. Sie wird verschont – während ihre Nachbarn im brennenden Jericho sterben.

 

Vielleicht hat sie aus Vertrauen auf den starken Gott Israels gehandelt. Vielleicht auch aus Angst. Wir wissen es nicht genau – nur, dass sie so gehandelt hat.

Was ist mit dem Blickwinkel Rahabs? Da stehen zwei Männer in ihrem Haus, sollte sie diese den Soldaten und damit dem Tod ausliefern? Hätte sie damit ihre Stadt gerettet vor dem Gott und dem Volk vor dem das ganze Land feige wird? Vermutlich nicht. Hat sie sich durch ihren Verrat schuldig gemacht? Aus Sicht Jerichos vermutlich schon.
Ist es unmoralisch, durch Verrat das eigene Leben zu retten? Oder wäre es besser gewesen, mit der Stadt zu sterben?

Es sind Fragen auf die ich keine Antwort habe. Aber ich kann so gut nachvollziehen, warum Rahab gehandelt hat, wie die Geschichte es berichtet. Sie hat keine Chance, „gut“ zu handeln. 
Rahab ist eine tragische Figur, die um das eigene Leben kämpft und dabei nicht unschuldig bleiben kann.

Ich finde, dass Rahab nicht die einzige Figur in der Geschichte ist, mit der ich hadere. Ich ringe mit dem Text auch um das Gottesbild, das gezeichnet wird. Es ist ein Gott der Stärke. Ein Gott, der Jericho fallen lässt. Ein Gott, der verlangt, Platz für sein Volk zu schaffen – ohne Rücksicht auf das Leben anderer.


Ich kenne den Gott, der sich verletzbar macht, der sich rühren lässt.
Und ich frage mich, wie beides zusammenpasst.

Rahab vertraut dem starken Gott Israels – dem Gott, der zugleich ihre Stadt zerstört.

Dem Text geht es vorrangig um Rahabs Überleben. Er will zeigen, dass Gott eben nicht die ganze Stadt dem Tod geweiht hat, sondern Ausnahmen zulässt. Er sieht Gottes Wirken nicht in der Zerstörung, sondern im Überleben einer Frau, die durch ihren Glauben, vielleicht durch ihre Angst, Grenzen überwindet. Ich finde das einen schwachen Trost.

Ich will nicht dem Gott der Sieger vertrauen, sondern dem Gott, der sich erweichen lässt – so wie Jesus im Evangelium.

Auch die Frau, die zu Jesus kommt ist eine Frau von außen – sie ist Kanaanäerin und somit nicht jüdisch, nicht aus Israel. Und Jesus weist sie zunächst ab, weil er sich für sie nicht zuständig sieht. Sie widerspricht ihm; und Jesus lässt sich bewegen. So wie Rahab das Schicksal der Stadt zumindest für wenige aufbricht, sprengt diese Frau die Grenze die Jesus für sein Wirken sah. Gott lernt durch sie Milde gegen Menschen die nicht zu seinem Volk gehören. Jesus lernt, dass sein Heil nicht exklusiv ist, sondern inklusiv. Es wird dadurch allen Menschen zugänglich, von Jericho bis Bamberg und darüber hinaus.

Beide Geschichten sind alt, aber das, was sie erzählen ist erschreckend aktuell. Wir leben, wie Rahab, in einer Welt, in der es selten eindeutig ist, was richtig oder falsch ist.

Wir leben in einer Zeit, in der Grenzen und Fronten wieder sichtbarer werden.
Wenn ich die Nachrichten verfolge, weiß ich manchmal kaum noch wo oben und unten ist, geschweige denn richtig und falsch. Wir sehen Krieg und Terror im Land, in dem Jericho liegt, und wir spüren: Es gibt keine einfachen Antworten. Wir sehen Schmerz, Angst und Ohnmacht auf allen Seiten.

Auch Rahab wusste nicht, was richtig und was falsch ist. Sie konnte nicht wissen, wie ihre Geschichte ausgeht. Sie musste eine Entscheidung treffen und jede mögliche Entscheidung hat Unglück in sich getragen. Ich finde es bewundernswert, dass Rahab in diesem Dilemma das Beste für sich und ihre Familie rausgeholt hat.

Rahab bleibt damit eine ambivalente Figur. Sie vertraut einem starken Gott und handelt ihm ihre Rettung ab. Es wäre mir lieber, wenn sie ganz Jericho in ihr Haus geholt hätte und alle gerettet worden wären. Aber vielleicht hat Rahab ihren gesamten Spielraum genutzt um eine schlimme Situation einen Funken besser zu machen.

Die kanaanäische Frau bewegt Jesus und öffnet dadurch das Reich Gottes für die Welt.

Die beiden Frauen zeigen, dass Gott nicht nur durch makellose Sieger handelt, sondern durch Menschen am Rande der Gesellschaft. Durch Minderheiten. Durch eine Prostituierte. Menschen die keine weltliche Macht haben, aber durch ihr Handeln und ihr Vertrauen auf Erfolg großes Bewirken können. Die eine bewegt Gott dazu, vermeintliche Feinde am Leben am zu lassen. Die andere bewegt Gott schließlich dazu, sein Reich für die früheren Feinde zu öffnen.

Ich bleibe zurück mit einem Gedanken:
Dass Vertrauen nicht heißt, alles zu wissen oder richtig zu machen,
sondern überhaupt zu handeln.

Ich darf entscheiden, obwohl ich nicht alles überblicke.
Ich darf mit Gott streiten und verhandeln, für mich und andere Menschen.
Ich darf mit Gott hadern und ihm trotzdem vertrauen.

Amen.