Wochenandacht

für die Woche vom 16. bis zum 22. November

Predigt am Sonntag, 16. November, über Hiob 14, 1-6.13-17
von Vikar Ferdinand Billharz

 

Ewiges Feuer (bezogen auf die Evangeliumslesung Mt 25, 31-46)

Liebe Gemeinde,

ewiges Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln. Puh, was für eine Drohung. Wenn ich das höre, wird mir ja Angst und Bange. Das sind harte Worte.


Wie oft bin ich an dem Anspruch, den Jesus hier stellt gescheitert. Wenn ich mit mir selbst ins Gericht gehe, merke ich: Ich würde in diesem Weltgericht wohl kaum bestehen.
 

Jesus sagt, dass er nicht nur sieht, was wir getan haben, sondern auch, was ungelebt blieb. Und ich brauche nur auf seine Beispiele im Evangelium schauen, um zu merken, es ist eine Menge.

 

Was ungelebt bleibt

Hunger hat eine Gestalt:
der leere Einkaufswagen, das Zurücklegen an der Kasse, der kalte Herd am Monatsende. Und ich schaue weg. Immer wieder.

Fremdheit wohnt nebenan:
ein Name am Briefkasten, den wir nicht aussprechen können;
ein zögerndes „Hallo“ – und die Tür geht zu.

Krankheit, die riecht nach Desinfektion und Klinikzimmer –
und der Stuhl am Krankenbett bleibt leer.

Gefangensein – das sind auch Sucht, Schulden, die Angst, nicht mehr rauszukommen. Doch wie oft blicken wir darüber hinweg?

Vor diesem Blick, der alles sieht, was nicht getan wurde –
wer will da bestehen?

Wenn Gott so auf uns schaut – wer könnte dann ruhig schlafen?
Ich nicht.

 

Hiobsfrage

Die Frage danach, wer vor Gottes Blick bestehen kann treibt auch Hiob um.

Er ist ein Mensch, der alles verloren hat – Besitz, Kinder, Gesundheit.
Und er versteht die Welt nicht mehr.
Er fragt sich, warum Gott ihn ansieht, als stünde er unter Anklage, obwohl er doch versucht hat, gerecht zu leben.

Wir hören, wie er seine Klage vor Gott bringt:

 

Hiob 14, 1–6. 13–17

1 Der Mensch, vom Weibe geboren, lebt kurze Zeit und ist voll Unruhe,
2 geht auf wie eine Blume und welkt, flieht wie ein Schatten und bleibt nicht.
3 Doch du tust deine Augen über einen solchen auf, dass du mich vor dir ins Gericht ziehst.
4 Kann wohl ein Reiner kommen von Unreinen? Auch nicht einer!
5 Sind seine Tage bestimmt, steht die Zahl seiner Monde bei dir und hast du ein Ziel gesetzt, das er nicht überschreiten kann:
6 so blicke doch weg von ihm, damit er Ruhe hat, bis sein Tag kommt, auf den er sich wie ein Tagelöhner freut.

13 Ach dass du mich im Totenreich verwahren und verbergen wolltest, bis dein Zorn sich legt, und mir eine Frist setzen und dann an mich denken wolltest!
14 Meinst du, einer stirbt und kann wieder leben? Alle Tage meines Dienstes wollte ich harren, bis meine Ablösung kommt.
15 Du würdest rufen und ich dir antworten; es würde dich verlangen nach dem Werk deiner Hände.
16 Dann würdest du meine Schritte zählen und nicht achtgeben auf meine Sünde.
17 Du würdest meine Übertretung in ein Bündlein versiegeln und meine Schuld übertünchen.

 

Hiobs Klage

Hiob ist verzweifelt. Sein Leben fühlt sich an, als säße er ununterbrochen auf der Anklagebank – aber eigentlich steht er vor keinem Gericht. Es gibt keinen Gerichtssaal, keine Akte, kein offizielles Verfahren. Sein „Gericht“ ist etwas anderes: die überfordernde Aufmerksamkeit, die er von Gott bekommt. Dieser Blick, der alles sieht und nichts übersieht; der prüfende, unnachgiebige Blick, der ihn auszieht bis auf den Grund. Genau das erdrückt ihn.

Er ist verzweifelt, weil er sich Gott ausgeliefert sieht. Und er empfindet Gott als zornig und unbarmherzig. Hiob hat immer ein gutes Leben geführt und wird so hart bestraft – entweder ist Gott also ungerecht, oder ein gnadenloser Richter, der selbst den kleinsten Fehltritt Hiobs hart bestraft.

Wenn ich Gottes Gericht als kalte Abrechnung verstehe – als Prüfung von allem, was ich getan oder nicht getan habe –, dann begreife ich Hiobs Verzweiflung.

Ich bestehe oft genug nicht einmal vor meinem eigenen, inneren Gericht – Wie soll ich da vor Gottes Gericht bestehen?

Hiobs verwegener Wunsch

Hiob kann nicht länger unter dem Blick Gottes verweilen. Er verlangt nicht viel, sondern braucht einfach mal Ruhe. Wenigstens eine kleine Pause. Nur einen Abend, den er ruhen kann, ohne sich wie auf einer Anklagebank zu fühlen. Aber er kommt nicht davon. Seine Verzweiflung wird schließlich so groß, dass er sich an Gott wendet. Er bittet ihn, sich von ihm abzuwenden.

Eine kleine Beziehungspause mit Gott.
Er bittet ihn: Schau doch weg von mir, lass mich einmal durchatmen.
Er ist bereit, sich im Totenreich zu verbergen, nur um ein paar Tage lang diesem prüfenden Blick zu entkommen.

Hiob zieht sich zurück.
Er braucht Abstand, um Gottes Gegenwart überhaupt noch ertragen zu können.

 

Hiobs Hoffnung

Es ist spannend, was Hiob fordert: In seiner Hinwendung bittet er Gott um Abwendung – nicht, um ihn loszuwerden, sondern in der Hoffnung, dass die Beziehung wieder heil wird.

Er bittet um Abstand, nicht um Vergessen. Er glaubt nicht an ein Leben ohne Gott – er glaubt daran, dass eine Pause der Nähe guttut.

Hiob hofft, dass Gott ihn vermisst.
Dass sein Zorn sich legt.
Dass die Sehnsucht stärker ist als die Anklage.

Das ist bemerkenswert:
Hiob bittet Gott um Distanz – aus Sehnsucht nach Beziehung.
Seine Klage ist kein Aufkündigen des Glaubens, sondern ein Ringen um ihn.

 

Unsere Gewissheit: Der Richterstuhl Christi

Hiob bleibt in diesem Moment nur die Hoffnung auf einen Gott, der sich nach seinem Geschöpf sehnt.

Was Hiob nur hoffen konnte, wird für uns Gewissheit: Gott hat sich tatsächlich nach uns gesehnt – so sehr, dass er selbst das Gericht auf sich genommen hat.

Denn in aller Schärfe des Evangeliums steht noch eine andere Wahrheit. Der Wochenspruch sagt es ganz deutlich: „Wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi.“

Der Richter, der dort sitzt, ist niemand anders als Christus selbst – derselbe, der für uns am Kreuz die Schuld der Welt getragen hat.

Wenn er richtet, dann nicht, um zu vernichten, sondern um Wahrheit ans Licht zu bringen. Um aufzudecken, was heil werden kann. So wie ein Arzt eine Wunde nicht verdeckt, sondern öffnet, damit sie heilen kann. Damit das, was falsch ist, nicht ewig falsch bleibt. Damit gebrochene Beziehungen nicht im Bruch enden.

Das Gericht Gottes ist kein Ende, sondern ein Anfang.
Es zeigt, was uns trennt – und die Gnade schafft, dass wir trotzdem mit ihm leben dürfen.


Gott richtet, um aufzurichten.

Darum dürfen wir das Gericht ernst nehmen, ohne daran zu zerbrechen wie Hiob.
Denn der, der uns ansieht, sieht uns mit den Augen der Liebe.
Der prüfende Blick wird zum sehnsüchtigen Blick.
Der zornige Richter wird zum Liebenden.

 

Der Zwischenraum

Hier ließe sich die Predigt schließen – mit der klaren Gewissheit des Evangeliums:
Gott richtet, um aufzurichten.

Aber Hiob lässt mich nicht los. Er kennt kein Ostern, keine Auferstehung, keine Versöhnung durch Christus. Er erinnert uns daran, dass unsere Gewissheit nicht die Klage erstickt.

Er bleibt im Zwischenraum, und diesen Raum will ich nicht übertönen.

 

Hiob muss mit seiner Verzweiflung in Gott umgehen.
Er hält Gottes Nähe nicht mehr aus – und bleibt doch im Gespräch.
Er bittet um eine Beziehungspause: Schau weg von mir – bis sich dein Zorn legt.
Er klagt. Er ringt. Er widerspricht – und hält damit die Treue.
Sein Umgang heißt: Pause und Klage.

Damit wandelt er den Gerichtssaal zum Raum der Begegnung. In ihm wird das Gericht zum Streit, der Beziehung schafft.
Klage ist gelebte Beziehung.

 

Glaube als Beziehung

Auch Glaube ist Beziehung, und jede Beziehung lebt von Bewegung: von Nähe und Distanz, von Fragen und Vertrauen, von Streit und Sehnsucht.

Manchmal glauben wir so fest – und manchmal gar nicht.
Manchmal fühlen wir uns von Gott getragen – und manchmal von ihm verlassen.

 

Hiob zeigt, dass wir Gott nicht immer verstehen oder gar verteidigen müssen. Er darf mit ihm hadern und sich sogar eine Beziehungspause wünschen.

Darum dürfen auch wir mit unserer Ambivalenz leben.

Mit unserem Glauben und unserem Zweifel, mit unserer Angst vor dem Gericht und unserer Hoffnung auf die Gnade. Denn Gott hält beides aus.

Wir dürfen ihn loben, aber auch anschreien, befragen und ihm die Stirn bieten – in der Gewissheit, dass er aus Sehnsucht zu uns gekommen ist – in Christus selbst.

Wir bleiben im Begegnungsraum Gottes

Denn was bei Hiob noch Hoffnung war, ist für uns Gewissheit. Mir muss beim Gedanken ans Gericht nicht mehr Angst und Bange werden.

Egal, was das Leben mit uns macht – wir bleiben im Begegnungsraum Gottes.

Und wir dürfen wissen: Christus richtet, um aufzurichten.